Liebes busfahrende Mädchen,
ich habe Dich und Deine beiden Freundinnen am Samstag leider nicht persönlich getroffen, habe Dir aber unendlich viel zu sagen.
Lena - meine Tochter - und ihre Oma fuhren zusammen mit Euch im selben Bus. Ihr müsst ungefähr 14-15 Jahre alt gewesen sein. Gelegentlich trafen Lenas Blicke Euch. Keine bösen Blicke. Keine hässlichen Blicke. Nein, Blicke aus Interesse und Neugier. Blicke voller Zuneigung, weil Lena jeden Menschen mag.
Lena ist geistig behindert. Sie hat einen Gendefekt, der sich SYNGAP1 nennt und ihr und unser Leben in vielen Bereichen ein wenig anders macht. Auch beim Bus fahren. Für Lena sind Busfahrten nicht die schnöde Möglichkeit von Ort A nach Ort B zu kommen.
Für Lena sind Busfahrten die Teilnahme am „normalen“ Leben.
Für Lena sind Busfahrten ein Abenteuer.
Für Lena sind Busfahrten das Allergrößte.
Nachdem Deine Freundinnen und Du den Bus zu Eurem persönlichen Spielplatz gemacht habt, was für mich vollkommen ok ist, und Ihr immer wieder kreuz und quer die Plätze innerhalb des gesamten Busses wechseltet, wecktet Ihr wohl auch gelegentlich Lenas Interesse.
Vielleicht war sie amüsiert, vielleicht war sie neugierig oder einfach ratlos, was Ihr da eigentlich die ganze Zeit macht. Sie muss daher einige Male in Eure Richtung geschaut haben. Die meiste Zeit nahm sie aber alle anderen Eindrücke wahr, die so eine Busfahrt mit sich bringt und die „normale“ Menschen wir Ihr und ich gar nicht mehr so wahrnehmen. Vorbeiziehende Straßen, die Geräusche in einem Bus und - ja - auch die Menschen. Eben auch Euch.
Liebes busfahrende Mädchen,
Du bist irgendwann auf Lena und ihre Oma zugegangen und sagtest, dass Lena Euch gefälligst nicht die ganze Zeit anschauen solle. Ihr - besonders Deine Freundin - würdet Euch dadurch belästigt fühlen. Es tut mir unendlich leid, dass es Euch unangenehm war.
Aber irgendwann wirst Du kein busfahrendes Mädchen mehr sein. Du wirst älter, vielleicht/hoffentlich auch viel reifer, verständnisvoller und emphatischer. Vielleicht bekommst Du auch eigene Kinder. Eigene Kinder sind nämlich ein wunderschönes Erlebnis, was man nicht verpassen sollte.
Wenn Du Dein Kind nach der Geburt in den Arm nimmst und froh bist, dass es bei Dir ist, „gesund“ und munter, und dass es Dich voller Zuneigung anschaut, wirst Du es anlächeln. Genauso wie Lena auch heute noch jeden Menschen anschaut und anlächelt. Eben wie am Samstag auch Deine Freundinnen und Dich.
Vielleicht sitzt Du auch irgendwann im Bus oder auch anderswo. Mit Deinem Kind. Vielleicht ist es gesund, vielleicht auch behindert. Aber sicher wird es mit seinen Augen die Welt erkunden.
Vielleicht kommst Du dann auch mal in diese Situation, in der jemand etwas Gleichartiges oder noch Schlimmeres zu Deinem Kind und Dir sagt. Ein Moment, in dem Du merken wirst, dass aus Deinem Herzen und besonders aus dem Herzen Deines Kindes ein ganz kleines Stück herausbricht.
Ich wünsche es Dir nicht, denn es ist ein wirklich trauriges Gefühl.
Denk bitte immer daran: „Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“ - Richard von Weizsäcker. Denn manchmal ändern sich Dinge im Leben schneller, als man denkt…
Ich wünsche Dir und Deinen Freundinnen von Herzen alles Gute.
Liebe Grüße Lenas Papa
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Vielleicht erreicht meine Botschaft auf diesem Weg doch noch das busfahrende Mädchen oder auch andere "busfahrende" Menschen.
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